Donnerstag, 17. Mai 2007


Sie lag auf dem Sofa und blätterte in einer Illustrierten. Es war ein graunasser Sonntagvormittag. Regen prasselte gegen das Wohnzimmerfenster. Auf dem Couchtisch vor ihr dampfte eine Tasse Tee. Sie hatte vorhin in der Küche, als sie denn Tee aufbrühte, seine Lieblingstasse mit einem Motiv von Dalí für den Tee gewählt. Eine Frau mit schönen Rundungen ist darauf zu sehen, wie sie am Fenster steht und sehnsuchtsvoll hinaus aufs Meer blickt. Irgendwie erinnerte sie das Bild an ihre eigene Sehnsucht, an diesem Morgen, den sie allein verbrachte. Ohne zärtlliche Worte, die ihr jemand ins Ohr flüsterte, ohne eine zaghafte Berührung, die sie eletrisieren könnte.

Ihre Gedanken schweiften. Unwirsch suchte sie nach Halt in der Zeitschrift, sie seufzte leicht. Dachte daran ein Bad zu nehmen. Und spürte plötzlich ein unvermitteltes Kribbeln auf der Haut und in ihrer Mitte. Sie erinnerte sich an einen Traum, den sie in der zurückliegenden Nacht geträumt hatte und dessen Bilder nun wieder auftauchten - schemenhaft, wie durch den feinen, heißen Dunst eines türkischen Dampfbades. Sie schloss die Augen.

In diesem Traum lag sie so wie in diesem Moment auf der Couch, nur dass sie nicht in einer Zeitschrift blätterte, sondern ein Telefon in der Hand hielt. Sie tippte eilig eine Nummer in die Tastatur, ihr Herz klopfte dabei vor Aufregung. Ihre Hände waren feucht und ihre Knie zitterten. Die Nummer, so erinnerte sie sich, hatte sie von einer Freundin bekommen, Tage zuvor in einem Café. "Probier' die mal aus, wenn dir langweilig ist", hatte die Freundin ihr verschwörerisch ins Ohr geraunt und ihr dazu eine Visitenkarte in die Hand gedrückt. Danach verschwand die Freundin mit einem Winken, ohne dass sie noch hätte fragen oder protestieren können.

In den Händen hielt sie also die Visitenkarte. Darauf nur eine Nummer und darüber ein Name in feiner Schreibschrift, so als hätte jemand mit einem teuren Füllfederhalter die Lettern einzeln auf den Karton notiert. Der Name: Alexandre de Massio. Hieß jemand wirklich so, fragte sie sich. Und wie hatte es dieser "Alexandre" in Form einer Visitenkarte in die Handtasche der Freundin geschafft? Wieso hatte die Freundin diese Nummer überhaupt gewählt? Und warum wollte sie, dass nun auch sie anrufen sollte, wenn es ihr langweilig sei? Wäre "Alexandre" eine gute Partie gewesen, so hätte die Freundin doch ganz gewiss nicht teilen wollen. Wenn "Alexandre" nun aber Arzt oder Anwalt ist, wieso sollte sie ihn ausgerechnet dann anrufen, wenn ihr gerade der Kopf nach Zerstreuung stand? Das alles dachte sie, allein im Cafè.

Und nun lag sie auf der Couch, wählte diese Nummer. Sie presste den Hörer ans Ohr, ein Rufton, noch einer, ein dritter. Dann die Stimme eines Mannes, sanft und doch markant, von tiefer Eleganz und einer versteckten Forschheit. Die Stimme sagte nur: "Hallo." Und es war kein Fragen darin, sondern ein Ausrufen, so als müsste sie, die Anrufende, erhört werden. Ihr Atem ging schneller. Sie versuchte sich zu sammeln, stotterte leicht: "Ist, ist dort Alexandre?" Die Stimme ging nicht direkt auf ihre Frage ein, sagte nur: "Deine Freundin hat mich empfohlen, nicht wahr?" "Ja, ich meine, ja, das stimmt. Woher wissen Sie,....?"
Sie kam nicht weiter, denn schon übernahm die Stimme die Regie: "Es ist geschehen, weil du wolltest, dass es geschieht. Du willst Zerstreuung, ein kleines Abenteuer, ein wenig Nervenkitzel und etwas, dass du nicht auszusprechen wagst."

Kurz dachte sie daran, aufzulegen. So verstört war sie, doch irgendetwas an "Alexandres" Stimme, wenn dieser Mann tatsächlich so hieß, ließ sie gewähren. Sie dachte, dass die Stimme recht hatte, genau das war es schließlich, was sie suchte. Ohne, dass sie es zuvor hätte benennen können. "Alexandre" sprach, ruhig, beinahe hypnotisierend: "Du musst nicht anworten, hör' einfach zu. Ich weiß ein wenig über Dich, denn vor ein paar Tagen warst Du in einem Café, ich saß dort nur unweit von Dir, konnte den Schimmer Deines Haars bewundern, Deinen sanften Blick, das mädchenhafte Lächeln, das Deine Lippen umspielte. Du trugst dieses zauberhafte Sommerkleid, das Deine Hüften zart umspielte, und ab und an trug eine Brise Deinen Duft zu mir herüber - kurz, ich war elektrisiert von Dir." Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Dieser Mann hatte sie also beobachtet? War das eine Idee ihrer Freundin? Und wenn ja, warum tat sie dies?

"Alexandre" sprach weiter: "In meinen Gedanken lud ich Dich ein, an meinen Tisch zu kommen, ein Glas Prosecco zu trinken. Du wolltest ablehnen, doch ich bestand darauf. Wir stießen an und Du spürtest bald, die belebende Wirkung, Deine Wangen erröteten leicht und Du sprachst schon bald wie zu einem alten Freund mit mir. Wir redeten und redeten, über Bücher, die Du gelesen hattest, über Deine Arbeit und vergangene Urlaube. Wir lachten viel dabei und unmerklich rutschen wir mit unseren Stühlen näher zueinander. Als Du gerade schwärmtest, wie schön es doch sei, in einem Hotelzimmer auf dem Bett zu liegen, während die großen Fensterflügel geöffnet sind und so den Blick aufs Meer freigeben, sagte ich unumwunden: 'Geh' mit mir in ein Hotel! Jetzt!' Du warst aufgewühlt, rangst nach Worten, nach Erklärungen, schautest auf die Uhr, fuhrst mit den Fingern durch die Haare, lächeltest unsicher und sagtest dann: 'Ja, lass uns gehen, schnell!'"

Sie lag noch immer auf der Couch, den Hörer ans Ohr gepresst, ihr war heiß, der Raum verschwand im Ungewissen. Sie flüsterte: "Sprich weiter, schnell!"

Und "Alexandre" erzählte. "Wir standen rasch auf, ich nahm Deine Hand, führte Dich, Du spürtest den kräftigen Griff meiner Hand, der Dir zwar Stärke zeigte, aber Dir nicht schmerzte. Ich ging leicht voran. Wir flüchteten beinahe. Deine Lust war entfacht, Du hattest nachgegeben und meine Führung erlaubte es Dir, nicht nachdenken zu müssen. Du wolltest nun spüren und gespürt werden. Vorbei an dem Portier, durch die Gänge dieses Hotels, an dessen Fassade Du schon hunderte Male vorbei gegangen warst und dessen Innenleben Du nie vernommen hattest, hinein in das Zimmer mit den großen Fenstern, die geöffnet waren und vor denen sich die Gardinen leicht im Wind wiegten. Und dann waren wir allein, vollständig allein mit uns. Du drücktest Dich an mich, Deine Hände gruben sich in meine, Dein Kopf lehnte sich an meine Schulter. Ich umschlang mit meinen Armen Deine Hüften. Wir tanzten beinahe."

"Alexandre" stoppte.
"Weiter, weiter", hauchte sie ins Telefon.
"Alexandre" gehorchte.

"Dann schob ich Dich weg von mir. Meine Hände strichen über Deine Schultern, Dein Kleid fiel mit dem leichten Rascheln von Herbstlaub zu Boden. Du trugst nur noch einen schwarzen Spitzen-BH, ein schwarzes Höschen und halterlose Strümpfe. Dir fiel erst jetzt meine Kleidung auf, dass ich einen schwarzen Businessanzug trug, eine gestreifte Krawatte, ein roséfarbenes Hemd. Eine leichte Brise vom Fenster her ließ Dich erschaudern. Ich fasste Dich an den Hüften, drückte Dich aufs Bett, sanft aber bestimmt. Ich sagte: 'Ich will, dass Du Dich mir hingibst, dass Du tust, was ich Dir sage, keine Widerworte gibst.' Du wolltest protestieren, doch schon küsste ich Dich, wir verschmolzen für einen langen Moment, alles verlor sich im Raum. Doch ich brach den Kuss jäh ab. Ich stellte mich vor Dich. 'Zieh Dein Höschen aus', befahl ich. Du gehorchtest und reichtest mir die kleine Handvoll Stoff. 'Ich möchte nun, dass Du die Augen schließt und Dich streichelst, überall. Stell Dir vor, es seien meine Hände, die Dich erkunden, bis zu Deiner Mitte.' Du tatest, wie ich es wünschte. Und Du spürtest meine Blicke auf Deinem Körper, wie ich es genoß, Deine Hüften beben zu sehen, wie Deine Hände zwischen Deine Schenkel fuhren. Du wusstest, dass mich ein Feuer ergreifen würde. Ein Feuer, dass auf Dich bald übergreifen würde, Dich ganz und gar entzündet, dass Du mir nicht mehr gehorchen, mir nur noch die Kleider vom Leib reißen würdest, damit ich endlich in Dich eindringe, Dir mit festen Stößen Gewissheit gebe, wie sehr ich Dich begehre. Jetzt hier in diesem Moment, in diesem Hotelzimmer...."

Sie ließ den Hörer fallen, stöhnte laut, ihre Finger hatten sich längst den Weg zu ihrem Schoß gebahnt. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Finger dort spielten, voller Entzücken, bis ein einziger Schrei sie befreite.

Sie schreckte hoch, die Zeitschrift fiel zu Boden. Was war geschehen? Nur ein Traum, nur ein Traum, dachte sie. Da entdeckte sie auf dem Boden das Telefon...
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